Entdeckungen in Industriedörfern um Chemnitz
Die Stadt Chemnitz vermarktet sich mit gutem Grund als „Stadt der Moderne“. Eine beträchtliche Anzahl architektonisch bedeutsamer Bauten, darunter Fabrikanlagen der Textil-, Automobil- und Maschinenbauindustrie gibt es heute in Chemnitz zu entdecken. Viele der nach 1990 stillgelegten Industriekomplexe haben mittlerweile zeitgemäße Umnutzungen erfahren und sich im öffentlichen Bewusstsein als Zentren von Kultur, Freizeit und Gewerbe etabliert.
Anders in jenen Orten im Chemnitzer Umland, in denen zu Beginn des 19. Jahrhunderts die rasante Entwicklung der sächsischen Textilindustrie ihren Anfang nahm. Technologisch bedingt entstanden die ersten mehrgeschossigen Spinnereigebäude in den umliegenden Dörfern an kleinen Flüssen wie Flöha, Zschopau, Chemnitz und Würschnitz, denn die Spinnmaschinen wurden zunächst mit Wasserkraft betrieben – daher der Begriff Spinnmühlen. Im Zuge der industriellen Entwicklung und des damit einher gehenden „Baubooms“ wurden viele dieser ehemaligen Waldhufendörfer nachhaltig überformt, so dass ihre ländliche Struktur heute manchmal erst auf den zweiten Blick erkennbar ist. In den Vordergrund traten Fabrikgebäude und, bedingt durch den enormen Bevölkerungszuwachs, kleinstädtisch geprägte Bau- und Siedlungsformen.
Die Konjunktur vieler Unternehmen – eine der bedeutendsten war die Auerbacher Firma ARWA, später Esda – hielt bis zum Zweiten Weltkrieg an und setzte sich nach 1945 unter sozialistischen Bedingungen fort. Bis zum Zusammenbruch des Ostblocks: Nur ein geringer Prozentsatz der einst so zahlreichen Textilbetriebe überlebte im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Heute prägen vielerorts Industriebrachen, nach und nach mit Hilfe von Förderprogrammen dem Erdboden gleichgemacht, die Ortsbilder. Berufliche Perspektiven für die (verbliebenen) Einwohner gibt es kaum, mit dem Wegfall der produzierenden Betriebe ging für Viele ein Stück Identität verloren; den Kommunen fehlt es offenkundig an alternativen Leitbildern.
Da städtische Bedingungen jenen in industriell geprägten Dörfern nicht vergleichbar sind, braucht es selbstverständlich unterschiedliche Konzepte im Umgang mit den Zeugnissen der Industriekultur. Doch bevor solche entwickelt werden können, muss gefragt werden: Welches Potenzial haben ehemalige Industriedörfer überhaupt? Was gibt es in den Tälern und Dörfern um Chemnitz zu entdecken? Was lässt sich – kulturell oder touristisch etwa – nutzen und vermarkten? Oder bleibt tatsächlich nur der Abriss?
Entdecken lässt sich zum Beispiel: Architektur.
Fabrikanten wie August Robert Wieland, Gründer und Inhaber der florierenden Auerbacher Strumpffabrik ARWA, nahmen selbstverständlich am gesellschaftlichen Leben im nahe gelegenen Chemnitz teil. Andererseits suchten dort ansässige Architekten auch im Umland berufliche Betätigungsfelder. Wieland zog in Auerbach für unterschiedliche Bauaufgaben Chemnitzer Architekten heran. So entwarf Curt am Ende für Wielands Unternehmen 1922 einen repräsentativen Verwaltungsbau, für ihn privat im darauf folgenden Jahr zwei Villen. Außerdem plante er in den selben Jahren Erweiterungsbauten einer bereits bestehenden Siedlung für Werksangehörige, die dem Fabrikkomplex auf der Hangseite direkt gegenüber liegt. Auch die Chemnitzer Architekten Willy Schönefeld sowie Luderer & Schröder realisierten in den Jahren 1927/28 Entwürfe in oben genannter Siedlung. Sowohl der Fabrik-Verwaltungsbau als auch die Siedlungshäuser sind typische Beispiele für die Heimatschutzarchitektur im frühen 20. Jahrhundert.
In den 1930er Jahren entwarf Curt am Ende dann für die Gemeinde ein neues Schulgebäude; kriegsbedingt kam der Bau erst 1950/51 zur Ausführung.
Kennern moderner Architektur ist die Christoph & Unmack AG aus Niesky ein Begriff. Die Firma produzierte bis 1945 unter anderem vorgefertigte Typenhäuser aus Holz. Der industrielle Fertigteilbau bewährte sich vor allem dort, wo schnell und preisgünstig Wohnraum geschaffen werden sollte. Während in Niesky ganze Wohnkolonien zu besichtigen sind, finden sich vereinzelt auch in sächsischen Industriedörfern Beispiele für den vorgefertigten Holzbau.
Ein Doppel-Wohnhaus der Firma Christoph & Unmack steht in Auerbach im Steinweg 2. Bauherr des in Blockbauweise 1926/27 errichteten Gebäudes war die Gemeinnützige Baugenossenschaft GmbH Auerbach.
Fazit: Wer nach dem zweiten Blick auf die Vielfalt der örtlichen Architektur – die neben Fabrikgebäuden, Villen und Siedlungen selbstverständlich auch alte Bauerngüter und Häuslerhäuser bereithält – einen dritten wagt, entdeckt dann im Zipfelhaus noch erzgebirgische Handwerkskunst. Und sehr schöne Landschaften sowieso.
Es gibt einiges zu erkunden in sächsischen Industriedörfern und etwas mehr positive öffentliche Aufmerksamkeit wäre den betreffenden Ortschaften durchaus zu wünschen. Bis es soweit ist, fließt hoffentlich nicht mehr allzu viel Wasser die Zschopau, Würschnitz und Flöha hinunter, denn viele bauliche Zeugnisse der Textilindustrie sind mittlerweile dem Verfall preisgegeben oder bereits verloren.
Das Nachdenken über eine sächsische Landesausstellung 2016/17 zum Thema Industriekultur ist ein geeigneter Anlass, über die Grenzen städtischer Industriezentren hinaus auch ins Umland zu schauen, sächsische Industriedörfer wie Auerbach/E. und andere stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken und ihre Rolle und Bedeutung im Prozess der Industrialisierung Sachsens zu würdigen.
Annett Steinert/30.08.2011